Figur aus Gipsbinden will zu genauem Hinsehen anregen

Die Beobachterin in St. Moritz

AUGSBURG – Im Mittelschiff der Moritzkirche, mit genau gleichem Abstand zum Altar wie die Figur des Christus Salvator von Georg Petel, steht derzeit „Die Beobachterin“: eine drei Meter hohe und sechs Meter lange filigrane Skulptur des Augsburger Künstlers Udo Rutschmann. Er hat seine Installation den männlichen Skulpturen im Kirchenraum als Femininum gegenübergestellt. 

„Die Beobachterin“ ist ein Netzwerk aus weißen Strängen von medizinischen Gipsbinden. Der international tätige Künstler, Bildhauer und Zeichner Udo Rutschmann hat dafür über tausend Meter Binden in zwei Zentimeter breite und zwei Meter lange Stücke gerissen, angefeuchtet und die Skulptur in zwei Arbeitsschritten geformt. Stütze und Form gibt eine Stahlkonstruktion aus feinen Stäben. Die Anatomie des menschlichen Körpers lieferte dem Bildhauer die wichtigsten Orientierungspunkte bei der Arbeit. „Die Beobachterin“ ist weiblich ohne die typischen Merkmale, sie verkörpert den weiblichen Aspekt.

Figur und Sockel entstanden in Rutschmanns Atelier im Martinipark, das Gewebe, das er Senso­rium nennt, schuf er in mehreren Nächten vor Ort in der Kirche. Er trat dabei in einen Dialog mit dem Kirchenraum und dem Licht. Die Gipsbinden musste er innerhalb weniger Minuten verarbeiten, weil sie nach dem Eintauchen in Wasser sehr schnell hart werden. Nach der Trocknung entstanden nicht nur glatte, sondern auch zerklüftete und gebrochene Oberflächen.

Mit geschlossenen Augen steht „Die Beobachterin“ auf der zen­tralen Achse der Moritzkirche. So beobachtet sie, ohne dass sich die Kirchenbesucher beobachtet fühlen. So kann sie hören, wahrnehmen, in Resonanz treten und nach innen gehen. Ihr Sinnesorgan ist das Sensorium, das an allen vier Seiten in den Raum hineinreicht. 

Das Gewebe lässt an manchen Stellen Einblicke und Durchblicke zu, auch auf das Trageskelett. Die Gipsbinden des Netzwerks sind mal dünn, mal dick, mal verknotet, an einigen Stellen gerissen und nur noch von ganz feinen Fäden gehalten, alles ist spröde und kann leicht brechen. „Sprödigkeit und Brüchigkeit werden nicht symbolisiert, das Material ist so“, erklärt Udo Rutschmann, der in seinen Arbeiten Materialien verschiedener Art als Bedeutungsträger nutzt. Die Spuren seines Arbeitsprozesses auf den Brettern, die das Fundament bilden, stehen für die Spuren, die das Leben hinterlässt. 

Mit ihrer filigranen Struktur und der Farbe Weiß im weißen Kirchenraum will „Die Beobachterin“ nicht auffallen und doch anregen, sich mit ihr zu beschäftigen, eigene Interpretationen zu haben, selbst zu beobachten, das Äußere, aber auch das eigene Innere. „Sie steht mitten im Raum, in sich ruhend, absichtslos, sie steht am Gegenüberort, sie setzt sich aus, aus der Beobachterin wird eine Beobachtete“, sagte Michael Grau, Kurator und Kunstreferent im Moritzteam, bei der Eröffnung der Ausstellung. Beobachten bedeute, sich mit der umgebenden Wirklichkeit in Verbindung zu setzen. 

Für Udo Rutschmann verkörpert „Die Beobachterin“ Standhaftigkeit, Anmut und Gelassenheit. Sie ist eine in sich gekehrte beobachtende Präsenz im Spannungsfeld zwischen Leben und Tod.

Roswitha Mitulla

21.05.2023 - Bistum Augsburg